Delia Owens – Der Gesang der Flusskrebse

Wir befinden uns im Jahr 1952 an der Küste von North Carolina. In diesem urwüchsigen Marschland, mit seinen Sümpfen und verzweigten Kanälen, den Schilfgürteln und Sandbänken lebt die kleine Kya mit ihrer Familie in einer ärmlichen Holzhütte. Das ist kein leichtes Leben, abseits der nächstgelegenen Stadt Barkley Cove, wo man die Menschen, die draußen in den Sümpfen leben als Menschen zweiter Klasse betrachtet. Der Vater ist selten zu Hause und wenn er dann auftaucht ist er betrunken und gewalttätig. Eines Morgens geschieht das Unfassbare. Die Mutter verlässt die Hütte mit einem großen Koffer in der Hand und wird nie mehr zurückkommen. So beginnt dieser außergewöhnlich ergreifende Roman “ Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens.

Wir erleben, wie Kya mit gerade einmal sechs Jahren für sich allein sorgen muss, denn auch ihre Geschwister haben diesen lieblosen Ort bereits verlasen. Anfänglich kümmert sich der Vater überhaupt nicht um seine Tochter, später haben die beiden eine kurze gemeinsame Zeit, eine Ahnung davon wie sich Familienleben anfühlt. Sie fahren morgens mit dem Boot in eine der Lagunen und fangen Fische, manchmal lachen sie sogar zusammen, was für das Mädchen ganz besonders ist, denn so hat sie den Vater vorher nicht erlebt. Doch der nächste Schicksalsschlag folgt bald. Eines Tages kommt auch der Vater nicht mehr nach Hause. Nun ist Kya wirklich völlig allein und auf sich gestellt. Es zerreißt einem das Herz, mitzuerleben wie das kleine Mädchen sich Essen beschaffen muss, die Hütte notdürftig in Ordnung hält und diese unglaubliche Einsamkeit ertragen muss. Draußen in der Natur fühlt sie sich sicher und oft zieht es sie zu den Möwen an den Strand. Die Tiere dulden sie in ihrer Mitte und schenken Nähe und Geborgenheit. So wird sie immer mehr ein Teil der Marsch. Sie sammelt alles was ihr schön und besonders erscheint, wie Federn oder Muscheln. Die Beschreibung der Natur mit all ihren Facetten gehört zu den Besonderheiten dieses Romans und sie erzeugen eine einzigartige Stimmung. Immer größere Kreise zieht Kya durch die Marsch. Menschen trifft sie selten und wenn, dann versteht sie es, sich wie die wilden Geschöpfe, unsichtbar zu machen. Die einzigen Kontakte sind lange Zeit der Schwarze Jumpin` und seine Frau Mabel, die in den 50er Jahren ebenso wie Kya bestenfalls Randfiguren der Gemeinschaft von Barkley Cove sind. Die beiden unterstützen das Marschmädchen wo sie können.

Jahre später wendet sich das Blatt. Kya begegnet Tate. Zu dem ruhigen und besonnenen jungen Mann fühlt sie sich seltsam hingezogen. Und aus dieser Begegnung wird eine zu Herzen gehende Liebesgeschichte. Tate bringt Kya das Lesen und Schreiben bei , bringt Schulbücher und Lektüre mit. Später versorgt er sie mit Fachliteratur und Kya beginnt, ihre Fundstücke einzuordnen, zu beschriften und Zeichnungen von Details anzufertigen. Doch so einfach lässt das Schicksal Kya nicht ihr Glück finden. Tate möchte Biologie studieren und zieht fort aus Barkley Cove. Wieder ein Bruch, verlassen werden, Einsamkeit und große Traurigkeit. Für Kya genauso wie für uns LeserInnen.

Ein junger Mann aus Barkley Cove , Chase, tritt auf die Bühne und schafft es, Kyas Herz, das sich so sehr nach Nähe und Liebe sehnt, zu erobern. Wir wissen oder ahnen es zumindest- das kann nicht gutgehen, ist Chase doch als Frauenheld berüchtigt. Und eines Tages liegt die Leiche von Chase Andrews unter einem Feuerturm und die Bewohner von Barkley Cove sind davon überzeugt, dass das Marschmädchen eine Mörderin ist. Jetzt wird es richtig spannend. Indizien werden gesammelt , es gibt einen Gerichtsprozess und atemlos lesen wir immer schneller, um zu einem hoffentlich guten Ende zu gelangen. Delia Owens erzählt diese Geschichte in einer wunderschönen Sprache. Wir tauchen tief in die Gefühlswelt des Marschmädchens ein und lassen gleichzeitig diese atemberaubende Landschaft auf uns wirken. Jetzt, wo ich über dieses Buch schreibe, wird mir bewusst, dass ich es auch Tage nachdem ich die letzte Seite gelesen habe, noch immer nicht loslassen kann.